Bad Driburg/Willebadessen (red). Mehr als 1,5 Millionen Abhängigkeitserkrankte, nur 500 werden jährlich behandelt, bei 90 Prozent sind die verschreibenden Ärzte die Verursacher der Sucht, Information und Prävention tut not – wird aber bis jetzt nur mit wenig Erfolg in Angriff genommen. Das sind die Ergebnisse der nunmehr fünften Info- und Fachtagung des SELBST.HILFE.SUCHT. e.V. Willebadessen am vergangenen Samstag in der Knappschafts-Klinik in Bad Driburg. Elmar Brok MdEP, der „Mister Europa“ Ostwestfalens, hatte die Schirmherrschaft der Veranstaltung unter dem Thema „BUNTE PILLEN ALS HEILSBRINGER!?! – MEDIKAMENTENSUCHT und MEDIKAMENTENABHÄNGIGKEIT in Deutschland“ übernommen und malte bereits in seinem Grußwort ein erschreckendes Bild: „Die Medikamentensucht liegt in Deutschland auf Platz zwei der Abhängigkeitserkrankungen, nach Tabak, aber vor Alkohol“, sagte der langjährige Europaabgeordnete vor dem gut gefüllten Auditorium. Dabei seien die Betroffenen zu 70 Prozent Frauen. Jedes Jahr würden in Deutschland 150 Millionen Packungen unterschiedlichster Schmerzmittel verkauft; davon 70 Prozent frei in Apotheken erhältlich. Die Anzahl der verordneten Opioide – das ist der Oberbegriff für all diese „Heilsbringer“ – habe sich von 1996 bis 2016 mehr als verdoppelt. In den USA sei die Situation noch schlimmer: 95 Millionen Amerikaner hätten 2016 verschreibungspflichtige Schmerzmittel eingenommen und 2,7 Millionen seien davon abhängig. Im Jahr 2016 starben 63.632 Amerikaner an einer Überdosis – zum Vergleich: Die Anzahl der Toten durch Autounfälle lag in den USA in diesem Jahr bei rund 40.000. Mit Rüdiger Holzbach hatte Tagungsleiter Wolfgang Laudage, Vorsitzender des Willebadessener Selbsthilfevereins, den wohl derzeit angesagtesten deutschen Fachmediziner für den Sachvortrag in der Driburger Knappschafts-Klinik gewinnen können. Der Dr. der Medizin ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik am Hochsauerland-Klinikum in Arnsberg und steht kurz vor seiner Habilitation. Von den 500 Medikamentensüchtigen, die jährlich in Deutschland sich einer Therapie unterziehen, behandelt er in seinem Krankenhaus allein 80. Der medizinische Experte gab denn auch einen allgemein verständlichen Überblick über Wirkungsweise und Anwendungsbereiche der Familie der Benzodiazepine. Derartige Medikamente würden bei vielen Symptomen verordnet, so Holzbach, und gab unter anderem folgende Übersicht: Angst, Panik, Schlafstörungen, psychogene Störungen, Überforderung, Depression, allgemeine Unruhe, vegetative Störungen usw. Dabei liegen Schlafstörungen (46 Prozent), Angst (46), Unruhe (38) und Panik (34) auf den vorderen Plätzen der Indikationen. Benzodiazepine als Dauermedikation lehnt der Fachmann aus Arnsberg rundweg ab. Zeitlich limitierte Einnahme unter rechtzeitiger Kontrolle sei bei diesen Medikationen das oberste Gebot, so Holzbach. Ein besonderes Augenmerk richtete der Referent auf die rasche Gewöhnung von Benzodiazepinen am Beispiel von Medikamenten mit dem Wirkstoff Diazepam. „Nimmt der Patient von diesem Arzneimittel pro Tag eine Dosis von fünf Milligramm ein, hat er bereits nach 13 Tagen durch die lange Abbauzeit des Medikaments ein Depot von mehr als 45 Milligramm in seinem Körper angesammelt“, analysierte der Chefarzt. Die Halbwertzeit sei das endscheidende Kriterium - und die liege zum Beispiel bei Nordazepam zwischen 30 und 200 Stunden. „Wenn schon Benzodiazepine verordnet werden müssten“, so Holzbach, „gelte die 4-K-Regel: Klare Indikation, kleine Dosis, kurze Anwendungsdauer, kein abruptes Absetzen“. Wichtig sei, so Holzbach, auf keinen Fall ein abruptes Absetzen der Suchtmedikamente. „Wir machen das in sehr kleinen Schritten und haben dadurch die besten Erfolge erzielt“, so der Experte. Und die können sich sehen lassen: Immerhin schließen 46,1 Prozent der Patienten ihre Entzugstherapie erfolgreich ab und bei 27,5 Prozent gelingt eine erhebliche Reduzierung der Dosis. Allerdings brechen auch 21,6 Prozent der Patienten die Behandlung vorzeitig ab, bei 3,9 Prozent Abbruch durch den behandelnden Arzt. Nach dem 40. Behandlungtag heißt es also in den meisten Fällen: geschafft! In der zweiten Halbzeit der Driburger Tagung wurde das Thema aus den verschiedendsten Blickrichtungen beleuchtet. Es stellten sich den Fragen des Moderators und der interessierten Besucher: Dr. med. Hans-Georg Heinemann, Facharzt für Innere Medizin und Inhaber einer Praxis für Allgemeinmedizin aus Dortmund; Waltraud Oevel, Krankenschwester, chronisch Medikamentenabhängige, aus Korbach; Dr. rer. nat. Andreas Genau, Approbierter Apotheker und Inhaber der Teutonenburg-Apotheke aus Warburg sowie Anja Auspurg, Dipl. Sozialarbeiterin/Sozialpädagogin von der Sucht- und Drogenberatung der Diakonie in Warburg. Und Hans-Georg Heinemann war es dann auch, der sich mit der Behauptung des prominenten Suchtmediziners Michael Musalek aus Wien auseinandersetzen musste, dass 90 Prozent der Medikamentenabhängigen durch Ärzte verursacht würden. Der Dortmunder Arzt, der eine tägliche Suchtsprechstunde abhält und auch sonst in mehreren Gremien sich mit den Auswirkungen von Suchterkrankungen ehrenamtlich beschäftigt, räumte diesen Vorwurf ein und verwies darauf, dass zum einen die Ausbildung der deutschen Ärzte im Suchtbereich noch immer nicht auf dem erforderlichen Stand sei und zum anderen der Zeittakt in der täglichen Praxisarbeit eingehende Patientenge-spräche kaum zulasse. „Präventionsarbeit“, so Heinemann, „wird von den Krankenkassen nunmal nicht honoriert!“ Mangelnden Beratungswillen bei seinen Kunden vermisst auch der Andreas Genau. Der Warburger Apotheker: „Grundsätzlich ist die Apotheke verpflichtet, vorgelegte Rezepte ordnungsgemäß zu beliefern.“ Dabei seien Information und Aufklärung eine der vornehmsten Aufgaben der Apothekerschaft; gleichzeitig aber häufig in ihrer Wirkung letztlich nicht effektiv. Waltraud Oevel berichtete, dass es bei ihr ein langwährender Prozess gewesen sei, zu der Erkenntnis zu kommen: „Du machst die Therapie nur für dich selbst und nicht für die Familie oder den Arbeitgeber“, sagt sie heute. Nur das und ihre seit vielen Jahren aktive Arbeit in der Selbsthilfegemeinschaft Freundeskreis Waldeck e.V. sei bis heute der Garant für ihren suchtmittelfreien zufriedenen Lebenswandel. Anja Auspurg ist es erstmal egal, mit welcher Motivation ein Hilfesucher ihre tägliche Sprechstunde in der Warburger Diakonie aufsucht. „Entscheidend ist“, so die Suchtberaterin, „dass er zu uns kommt und aus welchen Gründen auch immer seinen Suchtmittelkonsum aufgeben will“. Die Einsicht für die dauerhaften Ziele in ein abstinentes zukünftiges Leben würden dann durch die Beratung und entsprechende Therapie erarbeitet werden. Und da spielt die Fachfrau in der Sternstraße in Warburg das ganze „Klavier“: Beratung, Erstellung eines Sozialbericht, Stellen des Kostenübernahmeantrags bei der zuständigen Sozialversicherung und Auswahl der richtigen therapeutischen Einrichtung. Letztlich gehört die Empfehlung einer Selbsthilfegruppe für die Zeit nach einer erfolgreichen Therapie auch zu ihren Aufgaben. Auch sie weiß: Alle medizinisch-therapeutischen Maßnahmen sind lediglich temporär, nur die Arbeit in der Selbsthilfegruppe kennt kein Zeitlimit. Letztlich sagte René Rump, Psychologischer Psychotherapeut der Knappschafts-Klinik in Bad Driburg, als später Besucher der Jahrestagung von SELBST.HILFE.SUCHT. e.V. Willebadessen in Sachen Prävention den entscheidenden Satz: „Wenn Sie bei einer präventiven Aktion jeweils einen Mitbürger erreichen und überzeugen können, war der Aufwand nicht vergebens“. Prävention auf allen Kanälen, auch in den sogenannten sozialen Medien, tue not und sei das Gebot der Stunde. Die Zahl der Medikamentenabhängigen in Deutschland führten sonst zu amerikanischen Dimensionen.